Dr. Stefan Grüll, Beitrag für
North Korea. The Power of Dreams

Fotobuch von Xiomara Bender, Kehrer Verlag ISBN 978-3-86828-735-62016

Auszug:

Und am Zuckerhut wird auch nicht nur Samba getanzt.

Die Männer heissen ausnahmslos Kim und tragen Uniform. Bereiten sie nicht gerade den atomaren Erstschlag gegen die USA vor, arbeiten sie an der Wasserstoffbombe oder studieren gigantomanische Choreographien ein, die sie in kollektiver Hypnose zu Ehren des Führers mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerkes abspulen. Die Frauen bewegen sich stets zart geschminkt mit elfengleicher Anmut durch die Gender resistente Welt eines noch intakten Patriarchats. Von der Entwicklung der Wasserstoffbombe sind sie freigestellt und so studieren sie in ihrer staatlich organisierten Freizeit gigantomanische Choreographien ein, die sie in kollektiver Hypnose zu Ehren des Führers mit der Präzision … Sie wissen schon.

Wenn sie mal nicht in Massen tanzen, haben die Menschen wenig zu lachen. Noch weniger allerdings haben sie zu essen. Ganz im Gegensatz zu dem amtierenden Kim, der selbstredend Kim heisst und leicht übergewichtig ist. Der Rest der Welt hält ihn für hinreichend unzurechnungsfähig, so dass selbst China und Russland die Sanktionen der UN mittragen.

Mehr „wissen“ wir nicht über das so unheimlich wirkende Land auf der üblicherweise so-genannten Achse des Bösen. Ein paar Schlagworte also, die Kenntnis suggerieren, wo Ahnungslosigkeit herrscht. Systematische Desinformation dort und chronisches Desinteresse hier sind nach dem Ende des Korea-Krieges stickum eine unheilvolle Allianz des Wegschauens eingegangen, unter der seit über sechs Jahrzehnten die einfachen Menschen in der zivilisatorischen Diaspora eines Staates leiden, der sich Republik nennt und das Attribut demokratisch im Namen führt. Festzustellen, dass das heutige Nordkorea in seiner befremdenden Verfasstheit jedenfalls auch das Ergebnis eines Systemkonfliktes ist, der einst auch Europa gespalten und Deutschland geteilt hat, soll keinesfalls relativieren. Ist aber ein Gebot der Redlichkeit.

Es ist so leicht mit dem Finger auf das Land im Dunkeln zu zeigen, sich lustig zu machen über die skurrile Inszenierung dessen, was nordkoreanische Identität im Zeichen eines Regimes ausmacht, das Abschottung zu perfider Perfektion getrieben hat. Wir mögen lachen über den bizarren Personenkult. Er scheint aber den stolzen Menschen Halt zu geben in dem Informationsvakuum, in dem sich die rund 25 Millionen Nordkoreaner bewegen müssen. Ein Internet ohne Zugang zur Welt; manche nennen es treffender das nordkoreanische Intranet. Ein Mobilfunknetz, in das sich gerade einmal acht Prozent mit einem Handy überhaupt nur einwählen können, ohne mit dem Ausland telefonieren zu dürfen. Das einzige „soziale Netzwerk“ dürfte das Spitzelnetz sein, das die Einheitspartei über das Land gelegt hat.

Während unbestätigten Schätzungen zufolge rund 120.000 politischen Gefangene in den Internierungslagern darauf hoffen, von der Welt nicht vergessen zu werden, beschäftigen sich hiesige Medien mit der Frisur des – im Jargon des Boulevards – Babydiktators. Derartig ignorante Plattheiten medialer Arroganz sind sicher kein Beitrag zu Verständnis und Verständigung.

Ehrliches Interesse und unvoreingenommene Hinwendung sind notwendig, wollen wir tatsächlich Land und Leute hinter dem Vorhang gepflegter Vorurteile erkennen können. Und es bedarf der handwerklichen Professionalität im Zusammenspiel mit tiefer Empathie einer aussergewöhnlichen Künstlerin, um die bis dato noch immer nur kleinen Spalten in der sorgfältig errichten Propagandamauer fotografisch zu nutzen, durch die der unverstellte Blick auf das wahre Leben für den Bruchteil einer Sekunde der Unaufmerksamkeit des allgegenwärtigen Staatsapparates möglich ist. Xiomara Bender ist diese Künstlerin …

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